Pflanzenmärchen: Die Sonnenblume

Pflanzenmärchen: Die Sonnenblume

Jeden Abend durften die Töchter der Sonne am Ufer des Meeres ein Bad nehmen, um sich zu erfrischen. Da geschah es, dass eine von ihnen, die jüngste Sonnentochter, vergaß, ihr goldenes Kränzlein, das sie an einem Baum aufgehängt hatte, mitzunehmen. Ohne diesen Kranz durfte sie aber nicht zu ihrer Mutter Sonne zurückkehren. Also bat sie ihre Schwestern, an das Meeresufer zurückzukehren und zu suchen. Aber die Schwestern waren müde und meinten, wenn sie schon so vergesslich sei, sollte sie doch einen Tag auf der Erde verbringen und bis zum nächsten Abend warten, da kämen sie ja wieder. Also kehrte die jüngste Sonnentochter an den Platz zurück und suchte das Kränzlein, aber – oh, weh! – es war nicht mehr da. Doch unter dem Baum, an den sie den Kranz gehängt hatte, stand ein schöner Jüngling, der dem Sonnenkind seine Arme entgegenstreckte. Mit süßen Worten sagte der in Liebe Entbrannte: „Bleib bei mir!“, küsste sie zärtlich auf den Mund und bat sie, sein, des Erdensohnes, Weib zu werden. „Wie soll ich auf der Erde heimisch werden? Hier sind die Nächte so kalt und finster! Im Schloss meiner Mutter strahlen diamantene Sternenleuchten. Dort spinnen wir am Tag goldenes Garn und am Abend tauchen wir ins Meer. Was für ein Leben kannst du mir denn hier auf Erden bieten?“ „Ich biete dir rauschende Bäume und Vogelgesang, grüne Wiesen und Gärten voller Blumen. Ich biete dir Tage, reich an Arbeit, und Nächte, in denen dich meine Hände wärmen werden“, erwiderte der Erdensohn. Und er führte die Sonnentochter an den Fluss, wo die Traubenkirschen blühten und süß dufteten und wo die Vögel lieblich sangen. „Willst du bei mir bleiben und lernen, was Liebe ist?“ „Meine Liebe bist du, und ich will bei dir bleiben“, gelobte da die Tochter der Sonne, und der Erdensohn führte sie in eine Kammer, wo ihr goldenes Kränzlein hing. Vergeblich rief die Sonne am nächsten Morgen ihr Nesthäkchen. Die eigensinnige Sonnentochter erzählte, wie schön es auf der Erde sei und wie sehr sie der Erdensohn liebe. „Ich will dir nicht verbieten, zu heiraten. Aber du musst wissen, dass du dann nie mehr zu mir zurückkommen kannst“, sprach die Sonne. Nach der Hochzeit, die schön wie alle Hochzeiten war, sagte die Mutter Erde, nun müsse die Schwiegertochter an die Arbeit. Sie solle die Blumen pflegen und die Bienen hüten, denn mehr kann man von einer Sonnentochter nicht verlangen. So stand sie nun von früh bis spät im Garten, und ihr Ehemann, der Erdensohn, kam abends mürrisch und müde nach Hause. „Bring mir Traubenkirschenblüten und lass uns dem Lied der Nachtigall lauschen.“ „Die Traubenkirschen sind verblüht, und die Nachtigall singt nicht ewig.“ „Ist auch die Liebe vergänglich?“, fragte die Sonnentochter. „Ja, auch die Liebe ist vergänglich.“ „Und was ist ewig auf der Erde?“ „Die Arbeit“, sagte der Erdensohn und machte sich wieder auf den Weg. Da befiel die Sonnentochter großes Heimweh, und sie flehte die Mutter an: „Liebe Sonnenmutter, lass mich doch zurückkehren in meine Heimat! Nimm mich zurück.“ „Du warst zu lange fort, meine Tochter, deine Füße sind schon in der Erde verwurzelt. Ich kann dir nicht mehr helfen“, sprach die Sonne und überzog ihr Gesicht mit grauen Wolken. Ein paar Kristallperlen fielen auf die Erde – die Tränen der Mutter. Und so sehr die Sonnentochter versuchte, ihre Füße zu bewegen, die Erde hielt sie fest. So blieb das Sonnenkind auf der Erde und verwandelte sich in eine Blume. Vor lauter Heimweh schaut sie immer zur Sonne hin, und wir Menschen nennen sie Sonnenblume.

aus
"Geschichten von Blumen und Kräutern"
von Miriam Wiegele
Wer kennt noch die Geschichten, wie unsere Blumen und Kräuter den Weg zu uns gefunden und ihre Namen erhalten haben? Ein Buch über die zauberhafte Welt der Pflanzen.


© Bacopa Verlag, 2010. 184 Seiten, gebundene Ausgabe, mit farbigen Abbildungen. ISBN: 978-3-901618-54-3. Erhältlich im Buchhandel.


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